Die vergessene Kunst der Gelassenheit
Stell dir folgende Szene vor: Du stehst im Stau, der Termin rückt näher, auf dem Smartphone erscheinen ständig neue Benachrichtigungen, und nebenbei klingelt dein Telefon. Dein Puls steigt, deine Atmung wird flacher, und ein bekanntes Gefühl der Anspannung breitet sich in deinem Körper aus. Willkommen im modernen Alltag – einem Leben, in dem Hektik oft zur Normalität geworden ist.
Gelassenheit erscheint in solchen Momenten wie ein fernes, unerreichbares Ideal. Dabei ist sie keine moderne Erfindung, sondern eine Lebenshaltung mit tiefen historischen Wurzeln. Der Begriff „Gelassenheit“ stammt aus der deutschen Mystik des Mittelalters, wo er von Meister Eckhart geprägt wurde. Er beschrieb damit einen Zustand des „Lassens“ – das Loslassen von eigenen Wünschen und Vorstellungen, um offen zu werden für das, was ist.
„Gelassenheit ist nicht die Abwesenheit von Stress, sondern die Fähigkeit, inmitten des Chaos inner Ruhe zu bewahren.“
In unserer Leistungsgesellschaft wird Gelassenheit oft missverstanden. Sie ist weder Gleichgültigkeit noch Passivität. Im Gegenteil: Wahre Gelassenheit erfordert innere Stärke und bewusstes Handeln. Sie bedeutet, den Moment anzunehmen, wie er ist – mit all seinen Herausforderungen – und dennoch die innere Balance zu bewahren.
Der Philosoph Martin Heidegger griff den Begriff später wieder auf und verband ihn mit einer Haltung des „Sich-Einlassens“ auf die Welt, ohne sie beherrschen zu wollen. Diese Perspektive zeigt: Gelassenheit ist keine Technik, die man einfach erlernen kann, sondern eine fundamentale Lebenseinstellung, die Übung und Geduld erfordert.
Warum uns Gelassenheit heute so schwerfällt
Unser modernes Leben scheint der Gelassenheit bewusst entgegenzuwirken. Die ständige Erreichbarkeit durch digitale Medien, die Flut an Informationen und der gesellschaftliche Druck, immer produktiv sein zu müssen, schaffen einen permanenten Zustand der Anspannung. Neuropsychologen sprechen von einem „kognitiven Overflow“ – unser Gehirn wird mit mehr Reizen konfrontiert, als es verarbeiten kann.
Die Folgen dieser Daueraktivierung sind wissenschaftlich gut dokumentiert: Chronischer Stress führt zu erhöhten Cortisolwerten, die langfristig nicht nur unser Wohlbefinden, sondern auch unsere körperliche Gesundheit beeinträchtigen können. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne hat in den letzten Jahren nachweislich abgenommen – von einst 12 Minuten auf mittlerweile nur noch etwa 8 Sekunden.
Typische Hindernisse auf dem Weg zur Gelassenheit:
- Multitasking-Mythos: Entgegen der verbreiteten Meinung kann das menschliche Gehirn nicht mehrere komplexe Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Stattdessen springt es zwischen den Aufgaben hin und her, was Energie kostet und Fehler begünstigt.
- Perfektionismus: Das Streben nach Fehlerlosigkeit führt zu einem ständigen Gefühl des Ungenügens und verhindert, dass wir den gegenwärtigen Moment genießen können.
- FOMO (Fear of Missing Out): Die Angst, etwas zu verpassen, treibt uns an, ständig online zu sein und uns mit anderen zu vergleichen.
- Kontrollillusion: Der Wunsch, alles kontrollieren zu können, führt zu innerer Anspannung, wenn Situationen nicht nach Plan verlaufen.
Hinzu kommt ein kultureller Aspekt: In westlichen Gesellschaften wird Geschäftigkeit oft als Tugend angesehen. Wer „keine Zeit“ hat, scheint wichtig zu sein. Diese Gleichsetzung von Stress mit Status erschwert es, Gelassenheit als erstrebenswerten Zustand zu erkennen und zu kultivieren.
Paradoxerweise wissen wir gleichzeitig um den Wert der Gelassenheit. Kaum eine Eigenschaft wird bei anderen Menschen so bewundert wie die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen Ruhe zu bewahren. Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit macht deutlich: Der Weg zur Gelassenheit liegt weniger im Außen als in unserer inneren Haltung.
Die Gelassenheitspraxis im Alltag
Gelassenheit ist keine abstrakte Idee, sondern eine Praxis, die im konkreten Alltag verankert werden kann. Es geht darum, kleine Inseln der Ruhe zu schaffen und schrittweise eine neue Haltung zu kultivieren. Hier sind konkrete Ansätze, die wissenschaftlich fundiert und alltagstauglich sind.
Bewusste Atmung als Anker
Wenn der Chef eine unmögliche Deadline verkündet, die Kinder streiten oder der Zug Verspätung hat – die Atmung ist immer verfügbar als Werkzeug der Gelassenheit. Der Neurologe Dr. Andrew Huberman von der Stanford University hat in seinen Forschungen die physiologischen Effekte bewusster Atemtechniken nachgewiesen.
Besonders effektiv ist die 4-7-8-Methode: 4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden den Atem halten und 8 Sekunden lang ausatmen. Diese Technik aktiviert den Parasympathikus, den „Ruhe-Nerv“ unseres autonomen Nervensystems, und senkt nachweislich Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin.
Das Besondere an der Atmung: Sie verbindet bewusstes Handeln mit unbewussten Körperfunktionen und schafft so einen direkten Zugang zur Selbstregulation. In hektischen Situationen genügen oft schon drei bewusste tiefe Atemzüge, um aus dem automatischen Reaktionsmodus auszusteigen und Gelassenheit zu finden.
Bewusste Distanzierung
Eine zentrale Fähigkeit für mehr Gelassenheit ist es, einen Schritt zurückzutreten und Ereignisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Psychologen nennen diesen Vorgang „kognitive Defusion“ – die Fähigkeit, sich von den eigenen Gedanken zu lösen und sie als vorübergehende mentale Ereignisse zu erkennen.
Ein praktisches Werkzeug dafür ist die „90-Sekunden-Regel“ der Neurowissenschaftlerin Dr. Jill Bolte Taylor. Sie erkannte durch ihre eigene Erfahrung eines Schlaganfalls, dass emotionale Reaktionen im Körper etwa 90 Sekunden brauchen, um biochemisch abzuklingen – wenn wir sie nicht durch Gedanken immer wieder neu befeuern.
Übung zur Distanzierung: Wenn dich eine Situation aufregt, gib der Emotion bewusst 90 Sekunden Zeit. Beobachte, wie sie sich anfühlt, ohne sie zu bewerten oder in eine Geschichte einzubetten. Nach dieser Zeit entscheide bewusst: Möchtest du weiter in diesem Gefühl verweilen oder bist du bereit, es loszulassen?
Diese Praxis der Distanzierung bedeutet nicht, Gefühle zu unterdrücken, sondern ihnen mit Bewusstheit zu begegnen. Mit der Zeit entwickelt sich die Fähigkeit, zwischen Reiz und Reaktion einen Raum der Freiheit zu schaffen – den Raum, in dem Gelassenheit entsteht.
Prioritäten setzen und Grenzen ziehen
Gelassenheit erfordert auch strukturelle Entscheidungen im Alltag. Wer ständig mehr Verpflichtungen annimmt, als er bewältigen kann, programmiert Überforderung vor. Der Produktivitätsexperte Greg McKeown spricht vom „essentialistischen Lebensstil“ – der Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und bewusst auszuwählen, wofür man seine Energie einsetzt.
Konkret bedeutet das, regelmäßig innezuhalten und zu fragen: Was ist wirklich wichtig? Welche Aktivitäten geben mir Energie, welche rauben sie mir? Wo kann ich „Nein“ sagen, um Raum für Wesentliches zu schaffen? Dieser Prozess erfordert Mut, denn er bedeutet oft, gesellschaftlichen Erwartungen zu widerstehen.
Ein hilfreiches Prinzip dabei ist die „Minimalisten-Frage“: Trägt diese Verpflichtung, diese Aktivität oder dieser Besitz wirklich zu meinem Wohlbefinden bei? Wenn nicht, ist es an der Zeit, loszulassen. Gelassenheit entsteht nicht durch Anhäufung, sondern durch bewusstes Reduzieren auf das, was wirklich zählt.
Die innere Haltung kultivieren
Neben konkreten Praktiken geht es bei der Gelassenheit auch um eine fundamentale Veränderung der inneren Haltung. Diese tiefere Ebene betrifft unsere grundlegenden Überzeugungen und unser Verhältnis zur Welt.
Ein zentrales Element ist die Akzeptanz dessen, was ist. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi, bekannt für seine Flow-Forschung, beschreibt „psychologische Entropie“ als jenen Zustand, in dem wir gegen die Realität ankämpfen, statt sie anzunehmen. Diese innere Reibung kostet enorm viel Energie und verhindert Gelassenheit.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ – Viktor Frankl
Die stoische Philosophie bietet hier wertvolle Einsichten mit ihrer Unterscheidung zwischen Dingen, die in unserer Kontrolle liegen, und solchen, die außerhalb unserer Kontrolle sind. Gelassenheit entsteht, wenn wir unsere Energie auf das konzentrieren, was wir tatsächlich beeinflussen können, und das akzeptieren, was wir nicht ändern können.
Der römische Philosoph Seneca praktizierte das „negative Visualisieren“ – die bewusste Vorstellung möglicher Schwierigkeiten. Paradoxerweise führt diese Praxis nicht zu mehr Sorgen, sondern zu größerer Gelassenheit, weil sie uns innerlich auf Herausforderungen vorbereitet und unsere Widerstandsfähigkeit stärkt.
Transformative Fragen zur Gelassenheit:
- Welche Situation in meinem Leben nehme ich an, obwohl sie mir Energie raubt?
- Wogegen kämpfe ich innerlich an, ohne etwas verändern zu können?
- Was würde sich in meinem Erleben verändern, wenn ich diese Situation vollständig akzeptieren würde?
- Welche meiner Erwartungen erzeugen unnötigen Druck und könnten losgelassen werden?
Diese Reflexionen führen zu einer tieferen Ebene der Gelassenheit: nicht nur als Reaktion auf äußere Umstände, sondern als grundlegende Lebenshaltung. Es geht um die Erkenntnis, dass Gelassenheit nicht etwas ist, das wir erreichen oder erwerben, sondern eine Art des Seins, die wir kultivieren können – unabhängig von äußeren Umständen.
Gelassenheit als lebenslanger Weg
Gelassenheit ist kein Zustand, den man einmal erreicht und dann für immer besitzt. Sie gleicht eher einem Muskel, der kontinuierliches Training braucht, oder einer Pflanze, die beständige Pflege erfordert. Die japanische Tradition des Kaizen – der kontinuierlichen kleinen Verbesserungen – bietet hier eine hilfreiche Perspektive.
Besonders wichtig ist dabei die Haltung der Selbstfreundlichkeit. Der Weg zur Gelassenheit ist von Rückschritten geprägt. Gerade in stressigen Zeiten fallen wir leicht in alte Muster zurück. Entscheidend ist nicht die Perfektion, sondern die Bereitschaft, immer wieder neu zu beginnen.
Die Forschung zur Neuroplastizität zeigt, dass unser Gehirn sich zeitlebens verändern kann. Je öfter wir Gelassenheit praktizieren, desto stärker werden die entsprechenden neuronalen Netzwerke – ein Prozess, den Neurowissenschaftler Donald Hebb mit dem Satz beschrieb: „Neurons that fire together, wire together“ (Neuronen, die zusammen feuern, verdrahten sich miteinander).
Diese wissenschaftliche Erkenntnis bestätigt, was spirituelle Traditionen seit Jahrtausenden lehren: Die innere Haltung, die wir kultivieren, formt mit der Zeit unser Sein. Aus einzelnen Momenten der Gelassenheit kann eine grundlegende Qualität unseres Lebens werden.
Statt Gelassenheit als fertiges Ziel zu betrachten, lohnt es sich, sie als fortlaufende Praxis zu verstehen – als einen Weg, den wir jeden Tag aufs Neue beschreiten. In dieser Perspektive wird jede Herausforderung zu einer Gelegenheit, Gelassenheit zu üben und zu vertiefen.
„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“ – Marcel Proust
Letztlich geht es bei der Gelassenheit um eine fundamentale Entscheidung: Wollen wir unser Leben im Kampfmodus verbringen, ständig ringend mit dem, was ist? Oder können wir uns öffnen für eine Haltung des Vertrauens und der Akzeptanz, die uns erlaubt, inmitten aller Herausforderungen innere Ruhe zu finden?
Die Antwort auf diese Frage liegt in den kleinen Entscheidungen des Alltags: im bewussten Atemzug während eines Staus, im freundlichen Umgang mit eigenen Fehlern, in der Fähigkeit, im Chaos des Lebens immer wieder zur Mitte zurückzufinden. Dort, in diesen unscheinbaren Momenten, entfaltet sich die Kunst der Gelassenheit – nicht als fernes Ideal, sondern als lebendige Realität im Hier und Jetzt.

Hi! Mein Name ist Miranda und ich bin seit etwas über zwei Jahren selbstständige Businessberaterin. Meine Schwerpunkte liegen dabei im Bereich Finanzen & Motivationstraining. Do not have your head in the cloud – but move forward like you are walking on clouds. Ich mache dir den Business-Alltag leichter, luftiger, angenehmer – auch mit Sport am Arbeitsplatz und um den Arbeitsplatz herum!
Viel Spaß – deine Miranda 🙂